Das Statement von Migrantifa Hessen offenbart, wie unfähig „linke“ Gruppierungen in Deutschland geworden sind, zu differenzieren. Bereits einfache Sachverhalte scheinen zu überfordern, Prinzipien wie Anti-Kolonialismus und Anti-Rassismus verkommen zu hohlen Phrasen und werden nur noch als Werbeplakat hochgehalten.
Das Statement von Migrantifa Hessen strotzt nur vor
unbewiesenen Behauptungen und falschen Analysen. Hinzu kommt, dass hochgefährliche, Anti-Semitismus fördernde Bilder reproduziert werden.
Ihr verantwortet euch dafür, „israelbezogenem Antisemitismus in Form von Parolen und Aussagen eine Bühne geboten [zu] haben“. Aber ihr haltet es nicht ansatzweise für nötig, diese Parolen und Aussagen aufzuzeigen? Vielleicht deshalb, weil darin kein Anti-Semitismus zu finden ist? Anti-Semitismus ist die Diskriminierung, der Hass und die Feindschaft gegen Jüdinnen*Juden allein aufgrund ihres „Jüdisch-Seins“. Anti-Semitismus kommt in allen Gesellschafts-Schichten vor, wird von verschiedensten Akteur*innen explizit verbreitet oder implizit reproduziert und geht mit verschiedensten Ideologien und Verschwörungs-Mythen einher. Aber das Wesen des Anti-Semitismus bleibt immer gleich und zielt auf die Entmenschlichung, Vertreibung oder Vernichtung von Jüdinnen*Juden als Jüdinnen*Juden hin. Es gilt, dieser Ideologie, diesen Wahnvorstellungen die Wurzeln auszureißen und ihren Verfechter*innen das Leben zur Hölle zu machen.
Auf einem anderen Blatt steht der Staat Israel, der auf der Vertreibung der Palästinenser*innen gründet und rassistisch und siedler-kolonialistisch agiert. Gegen diesen Staat, seine Politik, sein Unrecht zu protestieren, muss legitim sein. Erst recht als Palästinenser*in, als durch diesen Staat Vertriebene, als Geflüchtete und Diskriminierte. Daran ist nichts anti-semitisch. Es geht um Menschenrechte, um Gleichberechtigung, um Freiheit und Selbstbestimmung für Palästinenser*innen. Heißt das, es gibt gar keinen Israel-bezogenen Anti-Semitismus? Doch. Israel-bezogener Anti-Semitismus entsteht, wenn Israel und das Judentum oder mehr noch, Israel und Jüdinnen*Juden gleichgesetzt werden. Israel wird zu dem Juden*der Jüdin. Das findet sich wieder in dem anti-semitischen Ausspruch von (deutschen) Nazis: „Israel ist unser Unglück“, der meint „Der Jude ist unser Unglück“. Wenn aber Palästinenser*innen, die vertrieben, deren Familien ermordet oder deren Häuser zerstört wurden sagen würden „Israel ist unser Unglück“, dann ist das ihre Realität und Folge der Politik des israelischen Staates, dann steht Israel für die Verbrechen und Menschenrechts-Verstöße, dann ist der Staat gemeint mit seinem Rassismus und Kolonialismus.
Es geht darum, zu differenzieren, Kontexte zu beachten und Erfahrungen anzuhören. Außerdem geht es auch darum, der Gleichsetzung von Israel und Jüdinnen*Juden entgegenzutreten. Die zionistische israelische Politik zielt maßgeblich darauf ab, eine Unterscheidung zwischen Jüdinnen*Juden und dem Staat Israel zu verunmöglichen und sich so vor jeglicher Kritik zu schützen. Das wurde auch zur deutschen Staatsräson, die die Gleichsetzung dankend annimmt und meint, mit der Unterstützung Israels durch Diplomatie, Rüstungsgüter und Geld würde eine Wiedergutmachung stattfinden an den Jüdinnen*Juden, die eben dieses Deutschland zu Opfern der Schoah machte. Als ob es einen Ablass-Handel gäbe, der die Sünden tilgt und die Hände vom Blut reinwäscht. Als ob es überhaupt etwas wie Wiedergutmachung gäbe!
Die einzige Antwort auf die Schoah war und ist nach wie vor der konsequente Kampf gegen den Anti-Semitismus, gegen den Faschismus und die Strukturen und Ideologien, die diese hervorgebracht haben und immer noch hervorbringen. Auf den Staat Israel als Schutzraum für Jüdinnen*Juden zu verweisen, ist eine verlogene, heuchlerische Ausrede dafür, sich dem Kampf gegen Anti-Semitismus in diesem wie in anderen Staaten und Gesellschaften zu stellen. „Der Staat Israel als einziger Schutzraum“ ist eine Kapitulation vor dem Nazi-Terror und eine klare Ansage an Jüdinnen*Juden in diesem Land: Hier seid ihr nicht sicher und hier kann euch auch niemand schützen. Wie kann es sein, dass Linke und selbst-ernannte „Antifa“ in diesem Land dieses Mantra die ganze Zeit wiederholen können? Werdet ihr das auch sagen, wenn Geflüchtete, Rassifizierte und Migrantisierte immer stärkerem Hass, Diskriminierung und Verfolgung gegenüber stehen? Werdet ihr uns dann auch sagen, geht in „euer“ Land, das ist der einzige „sichere Ort“ für euch?
Der Staat Israel, so hat es Shir Hever von der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost treffend ausgedrückt, ist ein Konzept, das es schon einmal gab. Der Staat Israel ist nichts anderes als ein Ghetto. Er ist Ausdruck dafür, dass es keinen Platz für Jüdinnen*Juden in unserer Gesellschaft gibt, und die anti-deutsche Linke steht hinter dieser Aussage, steht hinter Deutschland mit seiner Staatsräson und damit gegen die Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens hier und in anderen Gesellschaften, gegen einen gemeinsamen anti-faschistischen Kampf von Jüdinnen*Juden, Migrantisierten, Rassifizierten und anderen. Wenn ihr mit eurer Haltung, dass Jüdinnen*Juden in ein Ghetto gehören, ruhig schlafen könnt, dann können wir euch auch nicht mehr helfen. Wenn ihr wirklich der Meinung seid, nur dort, in Israel, seien Jüdinnen*Juden sicher, ihr sagt sogar, „am sichersten“, dann seid ihr realitäts-fern, verblendet und für einen linksradikalen Kampf, der sich auf differenzierte Analysen und präzise Beobachtungen der Welt um uns herum stützt, nicht zu gebrauchen.
Aus diesem Grund stellen wir uns auch gegen die Phrase vom Existenzrecht Israels. Welcher Existenz soll ein Recht gewährt werden? Der Existenz eines Staates, der rassistisch und kolonial ist in seiner Politik, seiner Rechtsprechung und seiner Verfassung? Eines Staates, der Bündnisse mit allen erdenklichen faschistischen und imperialistischen Staaten dieser Welt schließt? Wenn eins die Meinung vertritt, dass Staaten an sich Organe der Unterdrückung sind und abgeschafft gehören, dann hat sowieso kein Staat ein Existenzrecht, auch Israel nicht. Aber selbst wenn eins nicht so weit geht, sondern der Meinung ist, Staaten hätten ein Recht zu existieren, wenn sie zumindest auf repräsentativer Demokratie und rechtlicher Gleichstellung aufbauen, muss die Haltung so klar sein wie die der Demonstrant*innen in Tel Aviv, die rufen „Demokratie oder Besatzung!“ oder „von Jaffa (am Mittelmeer) bis Silwan (am Jordan) – Demokratie für alle!“. Der Staat Israel hat erst dann ein Existenzrecht wie die ganzen anderen Staaten dieser Welt, wenn er palästinensischen Staatsbürger*innen die gleichen Rechte garantiert wie jüdischen. Und davon ist er weit entfernt. Aus linker Perspektive ist es das Mindeste, sich mit den Palästinenser*innen in ihrem Kampf um Menschenrechte, Gleichberechtigung und Freiheit zu solidarisieren und linke Israelis in ihrem Kampf gegen den Staat zu unterstützen. Und von einem staatlichen Standpunkt wäre es das Mindeste, Israel mit Sanktionen zu belegen, bis die rechtliche Gleichstellung von jüdischen Israelis und Palästinenser*innen existiert.
Hört also auf, vom Existenzrecht Israels zu sprechen und damit eine siedler-koloniale und rassistische Politik zu unterstützen, wenn ihr eigentlich den Schutz von Jüdinnen*Juden vor anti-semitischer Diskriminierung und Verfolgung meinen solltet.
Ihr bittet um Verzeihung, dass „jüdische Perspektiven bei euren Veranstaltungen nicht gehört wurden“ und jüdische Menschen sich bei euch „nicht sicher fühlten“ (wegen „israel-bezogenem Antisemitismus“). Was soll das heißen? Was sollen diese „jüdischen Perspektiven“ bitte sein? Ihr reproduziert mit diesen Worten das Bild, dass es in der Palästina-Frage um einen Konflikt zwischen Jüdinnen*Juden und Palästinenser*innen oder Araber*innen gehe. Hier auch noch einmal für euch: Es geht um einen Konflikt zwischen Kolonisator*innen und Kolonisierten, zwischen Besatzer*innen und Besetzten. Meint ihr mit jüdischen Perspektiven die Stimmen von Yossi Bartal, Ilan Pappe, Judith Butler, Shir Hever, Iris Hefets, Miko Peled, Gideon Levy, Yehudit Yinhar, Erich Fried oder unzähligen anderen Jüdinnen*Juden, die den israelischen Staat als Besatzungs- und Kolonialmacht oder den Zionismus als rassistisch-koloniale Ideologie kritisieren? Oder habt ihr einfach das herrschende Bild übernommen, dass Jüdinnen*Juden allesamt unkritisch an der Seite Israels stünden, ja sogar dass Jüdinnen*Juden und Israel gleichzusetzen seien?
Ihr reproduziert damit genau die Scheiße, die eine „Gemeinschaft“ von Menschen, in diesem Fall Jüdinnen*Juden, zu einer homogenen Masse formen will und die Vielfalt in der Gemeinschaft, die Widersprüche, die Differenzen nicht nur verleugnet, sondern aktiv bekämpft. Ihr seid mitverantwortlich dafür, dass der Boden, auf dem Anti-Semitismus wächst, fruchtbar gehalten wird, dass es möglich bleibt, dass rassistische Vorurteile weiterhin gedeihen können, weil ihr alle Jüdinnen*Juden gleich setzt. Ihr lasst keinen Raum für die Individualität von Jüdinnen*Juden. Seinen Höhepunkt findet diese Logik in der Aussage „wo jüdisches Leben existiert, muss es geschützt und bewahrt werden“. Wie durcheinander muss ein Kopf sein, um so eine Aussage zu treffen. Ihr romantisiert, exotisiert und entmenschlicht mit dieser Aussage! Das rassistische, anti-semitische Narrativ, das Jüdinnen*Juden in einer konstruierten Hierarchie der „Rassen“, „Ethnien“ oder „Kulturen“ (rassistische Argumentationen ändern ihr Vokabular aber nicht ihr Wesen) ganz nach unten stellt, verdreht ihr einfach und konstruiert Jüdinnen*Juden als Spitze einer Opfer-Hierarchie. Ihr nehmt Jüdinnen*Juden und ihre vielfältigen, unterschiedlichen, entgegengesetzten Erfahrungen, Weltsichten und Lebensrealitäten einfach aus dieser Welt heraus, macht sie erst alle einheitlich, einförmig zu Opfern und baut dann den Grundsatz, Leben zu schützen, allein auf dem Jüdisch-Sein dieses Lebens auf. Das Leben an sich ist schützenswert, sei es jüdisch, muslimisch, weiß, schwarz, homo, trans oder sonst irgendwas!
Wir können uns denken, dass ihr den Satz „wo jüdisches Leben existiert, muss es geschützt und bewahrt werden“ schreibt, weil ihr eigentlich meint: unterdrücktes, marginalisiertes, verfolgtes Leben ist schutzbedürftiger, ist mehr darauf angewiesen, dass wir Solidarität zeigen und solidarisch handeln. Aber dann gilt es auch, richtig hinzuschauen, wie die jeweiligen Unterdrückungsverhältnisse in verschiedenen Orten und Kontexten aussehen. Genau das ist Aufgabe einer linken Analyse und Praxis. Wenn ihr sagt, ihr steht ein für die Freiheit, für den Kampf gegen Zwänge und gegen Unterdrückung, dann ist genau das eure Pflicht!
Dann müsstet ihr erkennen: Jüdinnen*Juden werden in Deutschland angefeindet, bedroht und verfolgt. Und gleichzeitig gibt es viele Jüdinnen*Juden in Israel, die Kolonisator*innen sind, die Rassist*innen, Faschist*innen und Mörder*innen sind. Die rassistische Hetze betreiben, „Tod den Arabern“ rufen und unschuldige Menschen erschießen, vertreiben oder in den Knast stecken. Jüdische Lebensrealitäten hier in Deutschland – und jüdische Lebensrealitäten in Israel. Das passiert alles gleichzeitig. Das existiert im selben Moment. Weil es unterschiedliche Menschen, unterschiedliche Orte und unterschiedliche Kontexte sind. Ist euch das zu viel? Seid ihr nicht in der Lage, ein bisschen zu differenzieren?
Als Linke stehen wir an der Seite der Unterdrückten, der Entrechteten, der Verfolgten, der zum Schweigen Gebrachten. Wir stehen fest und standhaft an der Seite unserer jüdischen Brüder* und Schwestern* in Deutschland und überall, wenn sie verfolgt, geschlagen und diskriminiert werden, nur weil sie jüdisch sind. Wir verteidigen sie genau wie alle anderen Menschen, wenn sie zu Diskriminierten, also zu Unterdrückten werden nur wegen eines bestimmten, ihnen zugesprochenen Merkmals. Mit unseren Stimmen, unseren Körpern und den uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Aber als Linke stehen wir genauso gegen alle Menschen, die selbst Verfolger*innen, Unterdrücker*innen, Rassist*innen oder Faschist*innen geworden sind. Darin sind wir konsequent, das heißt auch hier machen wir keine Unterscheidung, welche Herkunft, welche Religion, welche „Kultur“, welche Nationalität, welche „Farbe“ oder welches Geschlecht diese Menschen haben. Links sein heißt, an der Seite von Jüdinnen*Juden gegen Anti-Semitismus und Anti-Semit*innen zu kämpfen und gleichzeitig an der Seite von Palästinenser*innen und linken Jüdinnen*Juden gegen Zionist*innen und israelische Kolonisator*innen und Imperialist*innen zu kämpfen, die zufällig auch jüdisch sind. Ihr mögt das für widersprüchlich halten. Aber wir sehen darin keinen Widerspruch, sondern klare Prinzipien und die einzige Konsequenz aus der Fähigkeit zu differenzieren.
Wir hoffen, ihr nehmt unsere Stellungnahme als Beitrag, euch eine Meinung zu diesen Themen zu bilden. Uns ist bewusst, dass es eine sehr hart formulierte Kritik ist. Wir sehen migrantische Selbstorganisierung und den anti-faschistischen Kampf von Migrant*innen als essenziell an, um in diesem Land eine revolutionäre Linke zu etablieren. Eine Migrantifa ist in Hessen genauso wichtig wie überall sonst. Aber wenn anti-faschistisch, anti-rassistisch, anti-kolonial, dann richtig und konsequent, und nicht „ja, aber mit der Ausnahme wenn es um Palästinenser*innen geht“. Wir sind es leid, dass ihr (Anti-Deutschen und Solche, die anti-deutsche Ideen übernehmen und teilen), jedes Mal wenn wir unseren Mund aufmachen, ANTISEMITISMUS schreit! Wir sind es leid, dass unsere Erfahrungen offensichtlich keinen Platz haben im sogenannten anti-rassistischen und anti-kolonialen Kampf in Deutschland. Und wir sind es leid, immer diejenigen sein zu müssen, die zensiert, ausgeladen, verleumdet, angezeigt, angepöbelt und angegriffen werden, und dann trotzdem auf euch zugehen und anbieten, dass ihr einfach mal das Gespräch mit uns sucht, uns zuhört und vielleicht mal verstehen lernt, worum es uns geht. Ohne auf rassifizierte, unterdrückte (das heißt auch auf palästinensische) Stimmen zu hören, bleibt euer sogenannter Anti-Rassismus und Anti-Kolonialismus rassistisch und stützt die herrschenden, hegemonialen Diskurse und Unterdrückungs-Verhältnisse.
Free Palestine FFM
Palästina Spricht Palestine Speaks
Palästina spricht in NRW
Palästina Antikolonial