Das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Münster (DIG Münster) ruft zu einer Gegenkundgebung „Für Israel und gegen Antisemitismus auf“. In dieser Erklärung wollen wir aufklären, was daran widersprüchlich, gefährlich und rassistisch ist.
Ein zentrales Problem der Argumentation, die sich nicht gegen Antisemitismus, sondern gegen Kritik am israelischen Staat richtet, ist die Gleichsetzung des Nationalstaates Israel mit dem Judentum und die daraus folgende Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus. Diese oft verwendete Verschleierung ist nicht nur gefährlich, weil sie die Solidarität mit den unterdrückten Palästinenser*innen als antisemitisch verunglimpft, sie ist im Kern selbst antisemitisch. Die vielfältige globale jüdische Community kann und darf nicht auf den Nationalstaat Israel reduziert werden. Mehr als die Hälfte aller Jüd*innen leben im Jahr 2020 außerhalb von Israel, und viele Jüd*innen fühlen sich nicht repräsentiert von Israel. Den Staat Israel mit dem Judentum gleichzusetzen, spricht denjenigen Jüd*innen, die nicht in Israel leben wollen, ab, ein legitimer und gleichberechtigter Teil der jüdischen Community zu sein. Außerdem wird impliziert, dass alle Jüd*innen wesensgleich seien, was ihre Haltung zum israelischen Staat betrifft. Vielmehr noch wird allen Jüd*innen unterstellt, Zionist*innen zu sein. Diese Pauschalisierung einer bestimmten Gemeinschaft wollen und werden wir nicht akzeptieren. Wir lehnen dies genauso entschieden ab wie die rassistische Generalisierung von Schwarzen, Araber*nnen, Muslim*innen und anderen rassifizierten Gruppen.
Ebenfalls ist die Aussage, dass in Israel alle Staatsbürger*innen die gleichen Rechte besäßen, falsch und zynisch. Falsch ist sie in Bezug auf die Palästinenser*innen innerhalb Israels, die systematisch diskriminiert werden und die seit der Annahme des Nationalstaatsgesetzes, das Israel zum „jüdischen Staat“ deklariert, auch „vor dem Gesetz“ und offiziell Bürger*innen zweiter Klasse sind - bzw. dritter oder vierter Klasse, wenn die Herrschaftsverhältnisse zwischen verschiedenen jüdischen Gruppen analysiert werden.
Zynisch ist die Aussage, weil sie verbergen will, dass Israel vor allem die Menschen terrorisiert, die keine israelische Staatsbürgerschaft haben: Einerseits sind das die Palästinenser*innen, die unter der Besatzung in der Westbank leben und außerrechtliche Erschießungen, Häuserzerstörungen, rassistische Polizeigewalt, eine militärische Grenzmauer, Drangsalierungen an den Checkpoints, jahrelange Gefangenschaft ohne juristischen Prozess und andere typische Merkmale einer militärischen Besatzung erleiden müssen. Andererseits sind auch die Palästinenser*innen, die im seit 1991 schrittweise hermetisch abgeriegelten Gazastreifen leben, immer wieder wie 2008/09, 2012 und 2014 brutalen Kriegsverbrechen und Bombardierungen ausgesetzt. Zuletzt wurden allein 183 von ihnen während des Protestmarches „Great March of Return“ an der Grenzanlage des Gazastreifens ermordet und 9,204 verletzt.
Über solche Erfahrungen von Unterdrückung, Entrechtung und Gewalt zu sprechen, einen möglichst sicheren Raum zu schaffen, in dem rassifizierte und kolonisierte Menschen ihre Stimmen erheben können, ist ein elementarer Bestandteil antirassistischer Arbeit. Das Junge Forum DIG Münster will dies "verhindern" und zeigt deutlich, dass es vor rassistischem Silencing nicht zurückschreckt. Vor allem die Gleichsetzung von palästinensischen Erfahrungen und antisemitischer Hetze ist ein typisch rassistisches Verhalten, da den Palästinenser*innen per se unterstellt wird, antisemitisch zu sein. Dass das Junge Forum DIG Münster vor dem Hintergrund keine Tabuisierung von Palästinasolidarität erkennen kann, braucht nicht weiter kommentiert zu werden...
Zu dem geschilderten rassistischen, aggressiven, politischen McCarthyismus kommt das regierungstreue Vokabular, das das Junge Forum verwendet. Die „Souveränität auf Teile von Judäa und Samaria auszuweiten“ ist ein menschenverachtender Euphemismus für einen gewaltvollen Landraub in den besetzen palästinensischen Gebieten. Weiterhin lesen wir in dem Aufruf: Die Debatte um die Annexionspläne käme nicht „ohne eine Verurteilung Israels“ aus. Das ist richtig, aber auch nicht weiter verwunderlich, weil in Fällen der Verletzung des Völkerrechts und der Verhinderung des Selbstbestimmungsrechts von Völkern oder generell in jedem Unterdrückungskontext immer die verursachende Partei „verurteilt“ und kritisiert werden muss. Es ist genau die Aufgabe linker Bewegungen, sich konsequent an die Seite der Unterdrückten zu stellen sowie die Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse beim Namen zu nennen und transparent zu machen.
Schließlich endet der Aufruf mit dem klassischen „Whataboutism“, der in der deutschen Debatte analog zu der rassistischen „All-Lives-Matter“-Forderung gepflegt wird. Israel würde „dämonisiert“ und mit „doppelten Standards“ beurteilt. Das ist schlichtweg falsch. Genauso wie wir etwa den türkischen Nationalfaschismus verurteilen, verurteilen wir auch den israelischen. Anstatt Israel zu kritisieren solle sich außerdem die palästinensischen ElitenF vorgeknöpft werden. Die Kritik an der korrupten palästinensischen Autonomiebehörde ist uns ein großes Anliegen. Als progressiver Zusammenschluss sind wir davon überzeugt, dass die palästinensische Befreiung nur durch einen breiten emanzipatorischen Widerstand der Bevölkerung und internationalen Druck auf die israelische Regierung erreicht werden kann.
Die palästinensischen Eliten kritisieren wir aber vor allem dafür, dass sie durch die Sicherheitskooperation mit Israel zum Leid der Palästinenser*innen beitragen. Durch das Unterdrücken demokratischer Prozesse haben sie jegliche Legitimität als Vertreter*innen der Palästinenser*innen verloren. Die Palästinenser*innen müssen sich von Ihren Eliten emanzipieren. Aber das befreit den israelischen Staat nicht von seiner Verantwortung für die jahrzehntelange Unterdrückung und Kolonisierung der indigenen palästinensischen Bevölkerung sowie es auch nichts an dem grundlegenden Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnis in diesem Kontext ändert. Es ist zudem lachhaft, Kritik an der palästinensischen Führung einzufordern und gleichzeitig jegliche Räume, in denen palästinensische Stimmen zu Wort kommen können und auch eine solche Kritik vorgebracht werden kann, anzugreifen, zu behindern und den Versuch zu unternehmen, sie zu verhindern.
Wir lassen uns nicht einschüchtern und sind umso entschlossener mit Eurer Unterstützung, die marginalisierten palästinensischen Stimmen bei unserer Kundgebung sprechen zu lassen und uns mit den unterdrückten Palästinenser*innen zu solidarisieren.
Hoch die Internationale Solidarität!